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Germania Tacitus

Verfasst: 05.02.2003, 08:37
von Bjorgulf
Die Germania besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil (Kap. 1-5) beschreibt Tacitus die Geographie Germaniens, die Ursprünge der Germanen und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse. Im zweiten Teil (Kap. 6-27) folgt ein allgemeiner Überblick über das öffentliche Leben der Germanen. Tacitus beschreibt hier unter anderem Kriegssitten, Religion, Rechtswesen, Gefolgschaft und alltägliche Gewohnheiten wie z.B. Wohnung, Kleidung, Ehe und Trinksitten der Germanen. Danach (Kap. 28-46) beschreibt Tacitus die einzelnen germanischen Völker von Westen nach Osten und beschließt seinen Germanien ? Exkurs mit einer germanischen Sage. <br><br>1. Germanien insgesamt ist von den Galliern, von den Rätern und Pannoniern


durch Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern durch wechselseitiges


Mißtrauen oder Gebirgszüge geschieden. Die weiteren Grenzen schließt das


Weltmeer ein, breite Landvorsprünge und Inseln von unermeßlicher Ausdehnung


umfassend: erst unlängst wurden einige Völkerschaften und Könige bekannt, zu


denen der Krieg den Zugang eröffnet hat. Der Rhein, auf unzugänglicher und


schroffer Berghöhe der Rätischen Alpen entspringend, wendet sich in mäßiger


Biegung nach Westen und mündet sodann in das Nordmeer. Die Donau, einem


sanften und gemächlich ansteigenden Rücken des Abnobagebirges entströmend,


berührt eine Reihe von Völkern, ehe sie mit sechs Armen ins Schwarze Meer


eindringt; eine siebte Mündung verliert sich in Sümpfen.


Ursprung und Name der Germanen





2. Die Germanen selbst sind, möchte ich meinen, Ureinwohner und von


Zuwanderung und


gastlicher Aufnahme fremder Völker gänzlich unberührt. Denn ehemals kam


nicht auf dem Landwege, sondern zu Schiff gefahren, wer neue Wohnsitze


suchte, und das Weltmeer, das ins Unermeß1iche hinausreicht und sozusagen


auf der anderen Seite liegt, wird nur selten von Schiffen aus unserer Zone


besucht. Wer hätte auch - abgesehen von den Gefahren des schrecklichen und


unbekannten Meeres - Asien oder Afrika oder Italien verlassen und Germanien


aufsuchen wollen, landschaftlich ohne Reiz, rauh im Klima, trostlos für den


Bebauer wie für den Beschauer, es müßte denn seine Heimat sein? In alten


Liedern, der einzigen Art ihrer geschichtlichen Überlieferung, feiern die


Germanen Tuisto, einen erdentsprossenen Gott. Ihm schreiben sie einen Sohn


Mannus als Urvater und Gründer ihres Volkes zu, dem Mannus wiederum drei


Söhne; nach deren Namen, heißt es, nennen sich die Stämme an der Meeresküste


Ingävonen, die in der Mitte Herminonen und die übrigen Istävonen. Einige


versichern - die Urzeit gibt ja für Vermutungen weiten Spielraum -, jener


Gott habe mehr Söhne gehabt und es gebe demnach mehr Volksnamen: Marser,


Gambrivier, Sueben, Vandilier, und das seien die echten, alten Namen. Die


Bezeichnung Germanien sei übrigens neu und erst vor einiger Zeit


aufgekommen. Denn die ersten, die den Rhein überschritten und die Gallier


vertrieben hätten, die jetzigen Tungrer, seien damals Germanen genannt


worden. So habe der Name eines Stammes, nicht eines ganzen Volkes,


allmählich weite Geltung erlangt: zuerst wurden alle nach dem Sieger, aus


Furcht vor ihm, als Germanen bezeichnet, bald aber nannten auch sie selbst


sich so, nachdem der Name einmal aufgekommen war.





Herkules und Odysseus bei den Germanen


3. Auch Herkules, berichtet man, sei bei ihnen gewesen, und sie singen von


ihm als dem ersten aller Helden, wenn sie in den Kampf ziehen. Außerdem


haben sie noch eine Art von Liedern, durch deren Vortrag, Barditus geheißen,


sie sich Mut machen und aus deren bloßem Klang sie auf den Ausgang der


bevorstehenden Schlacht schließen; sie verbreiten nämlich Schrecken oder


sind selbst in Furcht, je nachdem es durch ihre Reihen tönt, und sie halten


den Gesang weniger für Stimmenschall als für den Zusammenklang ihrer


Kampfeskraft. Es kommt ihnen vor allem auf die Rauheit des Tones und ein


dumpfes Dröhnen an: sie halten die Schilde vor den Mund; so prallt die


Stimme zurück und schwillt zu größerer Wucht und Fülle an. Übrigens meinen


einige, auch Odysseus sei auf seiner langen und sagenhaften Irrfahrt in das


nördliche Weltmeer verschlagen worden und habe die Länder Germaniens


besucht. Asciburgium, ein noch heute bewohnter Ort am Ufer des Rheins, sei


von ihm gegründet und benannt worden; ebendort will man sogar vor Zeiten


einen dem Odysseus geweihten Altar gefunden haben, auf dem auch der Name


seines Vaters Laertes stand, und noch heute gebe es im Grenzgebiet zwischen


Germanien und Rätien Grabdenkmäler mit griechischen Schriftzeichen. Ich habe


nicht die Absicht, diese Angaben durch Gründe zu bestätigen oder zu


widerlegen; jeder mag ihnen nach seinem Gutdünken Glauben schenken oder


nicht.





Volkstypus


4. Ich selbst schließe mich der Ansicht an, daß sich die Bevölkerung


Germaniens niemals durch Heiraten mit Fremdstämmen vermischt hat und so ein


reiner, nur sich selbst gleicher Menschenschlag von eigener Art geblieben


ist. Daher ist auch die äußere Erscheinung trotz der großen Zahl von


Menschen bei allen dieselbe: wild blickende blaue Augen, rötliches Haar und


große Gestalten, die allerdings nur zum Angriff taugen. Für Strapazen und


Mühen bringen sie nicht dieselbe Ausdauer auf, und am wenigsten ertragen sie


Durst und Hitze; wohl aber sind sie durch Klima oder Bodenbeschaffenheit


gegen Kälte und Hunger abgehärtet.


Natur des Landes, Bodenerzeugnisse, Geld





5. Das Land zeigt zwar im einzelnen einige Unterschiede; doch im ganzen


macht es mit seinen Wäldern einen schaurigen, mit seinen Sümpfen einen


widerwärtigen Eindruck. Gegen Gallien hin ist es reicher an Regen, nach


Nori***** und Pannonien zu windiger. Getreide gedeiht, Obst hingegen nicht;


Vieh gibt es reichlich, doch zumeist ist es unansehnlich. Selbst den Rindern


fehlt die gewöhnliche Stattlichkeit und der Schmuck der Stirne; die Menge


macht den Leuten Freude, und die Herden sind ihr einziger und liebster


Besitz. Silber und Gold haben ihnen die Götter - ich weiß nicht, ob aus Huld


oder Zorn - versagt. Doch will ich nicht behaupten, daß keine Ader


Germaniens Silber oder Gold enthalte; denn wer hat nachgeforscht Besitz und


Verwendung dieser Metalle reizt sie nicht sonderlich. Man kann beobachten,


daß bei ihnen Gefäße aus Silber, Geschenke, die ihre Gesandten und Fürsten


erhalten haben, ebenso gering geachtet werden wie Tonkrüge. Allerdings


wissen unsere nächsten Nachbarn wegen des Handelsverkehrs mit uns Gold und


Silber zu schätzen, und sie kennen bestimmte Sorten unseres Geldes und


nehmen sie gern; doch im Innern herrscht noch einfacher und altertümlicher


der Tauschhandel. Von unseren Münzen gelten bei ihnen die alten und seit


langem bekannten, die gezahnten und die mit dem Bilde eines Zweigespanns.


Silber schätzen sie mehr als Gold, nicht aus besonderer Vorliebe, sondern


weil sich der Wert des Silbergeldes besser zum Einkauf alltäglicher,


billiger Dinge eignet.


Heerwesen





6. Auch an Eisen ist kein Überfluß, wie die Art der Bewaffnung zeigt. Nur


wenige haben ein Schwert oder eine größere Lanze. Sie tragen Speere oder,


wie sie selbst sagen, Framen, mit schmaler und kurzer Eisenspitze, die


jedoch so scharf und handlich ist, daß sie dieselbe Waffe je nach Bedarf für


den Nah- oder Fernkampf verwenden können. Selbst der Reiter begnügt sich mit


Schild und Frame; die Fu8soldatcn werfen auch kleine Spieße, jeder mehrere,


und sie schleudern sie ungeheuer weit: sie sind halb nackt oder tragen nur


einen leichten Umhang. Prunken mit Waffenschmuck ist ihnen fremd; nur die


Schilde bemalen sie mit auffallenden Farben.


Wenige haben einen Panzer, kaum der eine oder andere einen Helm oder eine


Lederkappe. Ihre Pferde zeichnet weder Schönheit noch Schnelligkeit aus. Sie


werden auch nicht, wie bei uns, zu kunstvollen Wendungen abgerichtet; man


reitet geradeaus oder mit einmaliger Schwenkung nach rechts, und zwar in so


geschlossener Linie, daß niemand zurückbleibt. Aufs ganze gesehen liegt ihre


Stärke mehr beim Fußvolk; daher kämpfen sie auch in gemischten Verbänden.


Hierbei paßt sich die Behendigkeit der Fußsoldaten genau dem Reiterkampfe


an: man stellt nur Leute vor die Schlachtreihe, die aus der gesamten


Jungmannschaft ausgewählt sind. Auch ist ihre Zahl begrenzt: aus jedem Gau


sind es hundert, und eben hiernach werden sie bei den Ihren genannt, und was


ursprünglich nur eine Zahlbezeichnung war, gilt nunmehr auch als Ehrenname.


Zum Kampfe stellt man sich in Keilen auf. Vom Platz zu weichen, wenn man


nur wieder vordringt, hält man eher für wohlbedacht, nicht für feige. Ihre


Toten bergen sie auch in unglücklicher Schlacht. Den Schild zu verlieren,


ist eine Schmach ohnegleichen, und der so Entehrte darf weder an Opfern


teilnehmen noch eine Versammlung besuchen, und schon mancher, der heil aus


dem Kriege zurückkehrte, hat seiner Schande mit dem Strick ein Ende gemacht.





7. Könige wählen sie nach Maßgabe des Adels, Heerführer nach der


Tapferkeit. Selbst die Könige haben keine unbeschränkte oder freie


Herrschergewalt, und die Heerführer erreichen mehr durch ihr Beispiel als


durch Befehle: sie werden bewundert, wenn sie stets zur Stelle sind, wenn


sie sich auszeichnen, wenn sie in vorderster Linie kämpfen. Übrigens ist es


nur den Priestern erlaubt, jemanden hinzurichten, zu fesseln oder auch nur


zu schlagen, und sie handeln nicht, um zu strafen oder auf Befehl des


Heerführers, sondern gewissermaßen auf Geheiß der Gottheit, die, wie man


glaubt, den Kämpfenden zur Seite steht. Deshalb nehmen die Germanen auch


gewisse Bilder und Zeichen, die sie aus den heiligen Hainen holen, mit in


die Schlacht.


Besonders spornt sie zur Tapferkeit an, daß nicht Zufall und willkürliche


Zusammenrottung, sondern Sippen und Geschlechter die Reiterhaufen oder die


Schlachtkeile bilden. Und ganz in der Nähe haben sie ihre Lieben; von


dorther können sie das Schreien der Frauen, von dorther das Wimmern der


Kinder vernehmen. Ihr Zeugnis ist jedem das heiligste, ihr Lob das höchste:


zur Mutter, zur Gattin kommen sie mit ihren Wunden, und jene zählen oder


prüfen ohne Scheu die Stiche; auch bringen sie den Kämpfenden Speise und


Zuspruch.





8. Schon manche wankende und sich auflösende Schlachtreihe wurde, wie es


heißt, von den Frauen wieder zum Stehen gebracht: durch beharrliches Flehen,


durch Entgegenhalten der entblö6ten Brust und den Hinweis auf die nahe


Gefangenschaft, die den Germanen um ihrer Frauen willen weit unerträglicher


und schrecklicher dünkt. Aus diesem Grunde kann man einen Stamm noch


wirksamer binden, wenn man unter den Geiseln auch vornehme Mädchen von ihm


fordert. Die Germanen glauben sogar, den Frauen wohne etwas Heiliges und


Seherisches inne; deshalb achten sie auf ihren Rat und hören auf ihren


Bescheid. Wir haben es ja zur Zeit des verewigten Vespasian erlebt, wie


Veleda lange Zeit bei vielen als göttliches Wesen galt. Doch schon vor


Zeiten haben sie Albruna und mehrere andere Frauen verehrt, aber nicht aus


Unterwürfigkeit und als ob sie erst Göttinnen aus ihnen machen müßten.


Götterkult und Vorzeichenglaube





9. Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur (Wodan); sie halten


es für geboten, ihm an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen.


Herkules (Donar) und Mars (Zio) stimmen sie durch bestimmte Tiere gnädig.


Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis. Worin der fremde Kult seinen Grund


und Ursprung hat, ist mir nicht recht bekannt geworden; immerhin beweist das


Zeichen der Göttin - es sieht wie eine Barke aus -, daß der Kult auf dem


Seewege gekommen ist. Im übrigen glauben die Germanen, daß es der Hoheit der


Himmlischen nicht gemäß sei, Götter in Wände einzuschließen oder irgendwie


der menschlichen Gestalt nachzubilden. Sie weihen ihnen Lichtungen und


Haine, und mit göttlichen Namen benennen sie jenes geheimnisvolle Wesen, das


sie nur in frommer Verehrung erblicken.








10. Auf Vorzeichen und Losorakel achtet niemand so viel wie sie. Das


Verfahren beim Losen ist einfach. Sie schneiden von einem fruchttragenden


Baum einen Zweig ab und zerteilen ihn in kleine Stücke; diese machen sie


durch Zeichen kenntlich und streuen sie planlos und wie es der Zufall will


auf ein weißes Laken. Dann betet bei einer öffentlichen Befragung der


Stammespriester, bei einer privaten der Hausvater zu den Göttern, hebt,


gegen den Himmel blickend, nacheinander drei Zweigstücke auf und deutet sie


nach den vorher eingeritzten Zeichen. Lautet das Ergebnis ungünstig, so


findet am gleichen Tage keine Befragung mehr über denselben Gegenstand


statt; lautet es jedoch günstig, so muß es noch durch Vorzeichen bestätigt


werden. Und der verbreitete Brauch, Stimme und Flug von Vögeln zu befragen,


ist auch hier bekannt; hingegen ist es eine germanische Besonderheit, auch


auf Vorzeichen und Hinweise von Pferden zu achten. Auf Kosten der


Allgemeinheit hält man in den erwähnten Hainen und Lichtungen Schimmel, die


durch keinerlei Dienst für Sterbliche entweiht sind. Man spannt sie vor den


heiligen Wagen; der Priester und der König oder das Oberhaupt des Stammes


gehen neben ihnen und beobachten ihr Wiehern und Schnauben. Und keinem


Zeichen schenkt man mehr Glauben, nicht etwa nur beim Volke: auch bei den


Vornehmen, bei den Priestern; sich selbst halten sie nämlich nur für Diener


der Götter, die Pferde hingegen für deren Vertraute. Sie beachten noch eine


andere Art von Vorzeichen; hiermit suchen sie den Ausgang schwerer Kriege zu


erkunden. Sie bringen auf irgendeine Weise einen Angehörigen des Stammes,


mit dem sie Krieg führen, in ihre Gewalt und lassen ihn mit einem


ausgewählten Manne des eigenen Volkes, jeden in den Waffen seiner Heimat,


kämpfen. Der Sieg des einen oder anderen gilt als Vorentscheidung.





Die Volksversammlung


11. Über geringere Angelegenheiten entscheiden die Stammeshäupter, über


wichtigere die Gesamtheit; doch werden auch die Dinge, für die das Volk


zuständig ist, zuvor von den Stammeshäuptern beraten. Man versammelt sich,


wenn nicht ein zufälliges und plötzliches Ereignis eintritt, an bestimmten


Tagen, bei Neumond oder Vollmond; dies sei, glauben sie, für Unternehmungen


der gedeihlichste Anfang. Sie rechnen nicht nach Tagen, wie wir, sondern


nach Nächten. So setzen sie Fristen fest, so bestimmen sie die Zeit: die


Nacht geht nach ihrer Auffassung dem Tage voran. Ihre Ungebundenheit hat


eine üble Folge: sie finden sich nie gleichzeitig und nicht wie auf Befehl


zur Versammlung ein; vielmehr gehen über dem Säumen der Eintreffenden zwei


oder drei Tage verloren. Sobald es der Menge beliebt, nimmt man Platz, und


zwar in Waffen. Ruhe gebieten die Priester; sie haben jetzt auch das Recht


zu strafen. Dann hört man den König an oder die Stammeshäupter, jeweils nach


dem Alter, nach dem Adel, nach dem Kriegsruhm, nach der Redegabe; hierbei


kommt es mehr auf Überzeugungskraft an als auf Befehlsgewalt. Mißfällt ein


Vorschlag, so weist man ihn durch Murren ab; findet er jedoch Beifall, so


schlägt man die Framen aneinander, Das Lob mit den Waffen ist die


ehrenvollste Art der Zustimmung.





Gerichtsbarkeit


12. Vor der Versammlung darf man auch Anklage erheben und die Entscheidung


über Leben und Tod beantragen. Die Strafen richten sich nach der Art des


Vergehens: Verräter und Überläufer hängt man an Bäumen auf; Feiglinge und


kriegsscheue und Unzüchtige versenkt man in Sumpf und Morast, wobei man noch


Flechtwerk darüber wirft. Die Verschiedenheit der Vollstreckung beruht auf


dem Grundsatz, man müsse Verbrechen zur Schau stellen, wenn man sie ahnde,


Schandtaten hingegen dem Blicke entziehen, Doch auch in leichteren Fällen


entspricht die Strafe dem Vergehen: wer überführt wird, muß mit einer Anzahl


von Pferden und Rindern büßen. Ein Teil der Buße kommt dem König oder dem


Stamme zu, ein Teil dem Geschädigten selbst oder seinen Verwandten. In


diesen Versammlungen werden auch Adlige gewählt, die in den Gauen und


Dörfern Recht sprechen; einem jeden steht ein Geleit von hundert Mann aus


dem Volke als Rat zugleich und zu größerem Ansehen bei.


Wehrhaftmachung und Gefolgschaft





13. Niemals, weder bei Sachen der Gemeinde noch bei eigenen, erledigen sie


etwas anders als in Waffen. Doch darf keiner Waffen tragen, ehe ihn der


Stamm für wehrfähig erklärt. Das geschieht in öffentlicher Versammlung:


eines der Stammeshäupter oder der Vater oder Verwandte wappnen den jungen


Mann mit Schild und Frame. Dies ist das Männerkleid der Germanen, dies die


erste Zier der Jugend; vorher zählen sie nur zum Hause, von jetzt an zum


Gemeinwesen. Hohe Abkunft oder große Verdienste der Väter verschaffen auch


ganz jungen Leuten die Gunst eines Gefolgsherrn; sie werden den anderen


zugesellt, die schon stärker und längst erprobt sind. Es ist auch keine


Schande, unter den Gefolgsleuten zu erscheinen. Ja, innerhalb der


Gefolgschaft gibt es sogar Rangstufen, nach der Bestimmung dessen, dem man


sich anschließt. Und es herrscht lebhafter Wetteifer: der Gefolgsleute, wer


die erste Stelle beim Gefolgsherrn einnimmt, und der Gefolgsherrn, wer das


größte und tüchtigste Gefolge hat. So kommt man zu Ansehen, so zu Macht;


stets von einer großen Schar auserlesener junger Männer umgeben zu sein, ist


im Frieden eine Zier, im Kriege ein Schutz. Und nicht nur im eigenen Stamme,


auch bei den Nachbarn ist bekannt und berühmt, wer sich durch ein


zahlreiches und tapferes Gefolge hervortut. Denn ihn umwirbt man durch


Gesandte und ehrt man durch Geschenke, und schon sein Ruf verhindert oft


einen drohenden Krieg.





14. Kommt es zur Schlacht, ist es schimpflich für den Gefolgsherrn, an


Tapferkeit zurückzustehen, schimpflich für das Gefolge, es dem Herrn an


Tapferkeit nicht gleichzutun. Doch für das ganze Leben lädt Schmach und


Schande auf sich, wer seinen Herrn überlebend aus der Schlacht zurückkehrt:


ihn zu schirmen und zu schützen, auch die eigenen Heldentaten ihm zum Ruhme


anzurechnen, ist des Dienstes heiligste Pflicht. Die Herren kämpfen für den


Sieg, die Gefolgsleute für den Herrn. Wenn der Heimatstamm in langer


Friedensruhe erstarrt, suchen viele der jungen Adligen auf eigene Faust


Völkerschaften auf, die gerade irgendeinen Krieg führen; denn Ruhe behagt


diesem Volke nicht, und inmitten von Gefahren wird man leichter berühmt.


Auch läßt sich ein gro0es Gefolge nur durch Gewalttat und Krieg unterhalten.


Die Gefolgsleute erwarten nämlich von der Huld ihres Herrn ihr Streitroß,


ihre blutige und siegbringende Frame. Denn die Mahlzeiten und die wenn auch


einfachen, so doch reichlichen Schmausereien gelten als Sold. Die Mittel zu


diesem Aufwand bieten Kriege und Raub. Und nicht so leicht könnte man einen


Germanen dazu bringen, das Feld zu bestellen und die Ernte abzuwarten, als


den Feind herauszufordern und sich Wunden zu holen; es gilt sogar für träge


und schlaff, sich mit Schweiß zu erarbeiten, was man mit Blut erringen kann.





15. Wenn sie nicht zu Felde ziehen, verbringen sie viel Zeit mit Jagen,


mehr noch mit Nichtstun, dem Schlafen und Essen ergeben. Gerade die


Tapfersten und Kriegslustigsten rühren sich nicht. Die Sorge für Haus, Hof


und Feld bleibt den Frauen, den alten Leuten und allen Schwachen im


Hauswesen überlassen; sie selber faulenzen. Ein seltsamer Widerspruch ihres


Wesens: dieselben Menschen lieben so sehr das Nichtstun und hassen zugleich


die Ruhe, Es ist bei den Stämmen Brauch, daß jedermann freiwillig den


Oberhäuptern etwas von seinem Vieh oder Korn überläßt; das wird als


Ehrengabe angenommen und dient zugleich der Bestreitung des Notwendigen.


Besondere Freude bereiten die Geschenke der Nachbarstämme, die nicht nur von


einzelnen, sondern auch im Namen der Gesamtheit geschickt werden: erlesene


Pferde, prächtige Waffen, Brustschmuck und Halsketten; wir haben sie schon


dazu gebracht, auch Geld anzunehmen.


Siedlungsweise und Wohnstätten





16. Daß die Völkerschaften der Germanen keine Städte bewohnen, ist


hinreichend bekannt, ja da6 sie nicht einmal zusammenhängende Siedlungen


dulden. Sie hausen einzeln und gesondert, gerade wie ein Quell, eine Fläche,


ein Gehölz ihnen zusagt. Ihre Dörfer legen sie nicht in unserer Weise an,


daß die Gebäude verbunden sind und aneinanderstoßen: jeder umgibt sein Haus


mit freiem Raum, sei es zum Schutz gegen Feuersgefahr, sei es aus Unkenntnis


im Hauen. Nicht einmal Bruchsteine oder Ziegel sind bei ihnen im Gebrauch;


zu allem verwenden sie unbehauenes Holz, ohne auf ein gefälliges oder


freundliches Aussehen zu achten. Einige Flächen bestreichen sie recht


sorgfältig mit einer so blendend weißen Erde, daß es wie Bemalung und


farbiges Linienwerk aussieht. Sie schachten auch oft im Erdboden Gruben aus


und bedecken sie mit reichlich Dung, als Zuflucht für den Winter und als


Fruchtspeicher. Derartige Räume schwächen nämlich die Wirkung der strengen


Kälte, und wenn einmal der Feind kommt, dann verwüstet er nur, was offen


daliegt; doch das Verborgene und Vergrabene bemerkt er nicht, oder es


entgeht ihm deshalb, weil er erst danach suchen müßte.





Kleidung





17. Allgemeine Tracht ist ein Umhang, mit einer Spange oder notfalls einem


Dorn zusammengehalten. Im übrigen sind sie unbekleidet; ganze Tage


verbringen sie so am Herdfeuer. Nur die Reichsten haben noch Untergewänder,


nicht wallende, wie die Sarmaten und Parther, sondern eng anliegende, die


jedes Glied erkennen lassen. Man trägt auch Tierfelle, an Rhein und Donau


wahllos, im Landesinneren anspruchsvoller; dort fehlt es an sonstigem Putz,


wie ihn der Handel vermittelt. Diese Stämme bevorzugen die Felle bestimmter


Wildarten; sie ziehen sie ab und besetzen sie mit Pelzstücken von Tieren,


die der äußere Ozean und ein noch unbekanntes Meer hervorbringen. Die Frauen


sind nicht anders gekleidet als die Männer; nur hüllen sie sich öfters in


Umhänge aus Leinen, die sie mit Purpurstreifen verzieren. Auch lassen sie


den oberen Teil ihres Gewandes nicht in Ärmel auslaufen; Unter- und Oberarm


sind nackt, doch auch der anschließende Teil der Brust bleibt frei.


Mitgift und Ehe





18. Gleichwohl halten die Germanen auf strenge Ehezucht, und in keinem


Punkte verdienen ihre Sitten größeres Lob. Denn sie sind fast die einzigen


unter den Barbaren, die sich mit einer Gattin begnügen; sehr wenige machen


hiervon eine Ausnahme, nicht aus Sinnlichkeit, sondern weil sie wegen ihres


Adels mehrfach um Eheverbindungen angegangen werden. Die Mitgift bringt


nicht die Gattin dem Manne, sondern der Mann der Gattin. Eltern und


Verwandte sind zugegen und prüfen die Gaben, und zwar Gaben, die nicht für


die weibliche Eitelkeit und nicht zum Schmuck der Neuvermählten bestimmt


sind, sondern Rinder und ein gezäumtes Roß und einen Schild mit Frame und


Schwert. Für diese Gaben erhält der Mann die Gattin, die nun auch ihrerseits


dem Manne eine Waffe schenkt. Das gilt ihnen als die stärkste Bindung, als


geheime Weihe, als göttlicher Schutz der Ehe. Die Frau soll nicht meinen,


sie stehe außerhalb des Trachtens nach Heldentaten und außerhalb des


wechselnden Schlachtenglücks: gerade die Wahrzeichen der beginnenden Ehe


erinnern sie daran, daß sie als die Genossin in Mühen und Gefahren kommt,


bereit, Gleiches im Frieden, Gleiches im Kampf zu ertragen und zu wagen.


Dies bedeuten die Rinder unter gemeinsamem Joch, dies das gerüstete Pferd,


dies das Schenken von Waffen. Demgemäß solle sie leben, demgemäß sterben;


ihr werde etwas anvertraut, was sie unentweiht und in Ehren an ihre Kinder


weiterzugeben habe, was die Schwiegertöchter zu empfangen und wiederum den


Enkeln zu vermachen hätten.





19. So leben die Frauen in wohlbehüteter Sittsamkeit, nicht durch lüsterne


Schauspiele, nicht durch aufreizende Gelage verführt. Heimliche Briefe sind


den Männern ebenso unbekannt wie den Frauen. Überaus selten ist trotz der so


zahlreichen Bevölkerung ein Ehebruch. Die Strafe folgt auf der Stelle und


ist dem Manne überlassen: er schneidet der Ehebrecherin das Haar ab, jagt


sie nackt vor den Augen der Verwandten aus dem Hause und treibt sie mit


Rutenstreichen durch das ganze Dorf. Denn für Preisgabe der Keuschheit gibt


es keine Nachsicht: nicht Schönheit, nicht Jugend, nicht Reichtum


verschaffen einer solchen Frau wieder einen Mann. Dort lacht nämlich niemand


über Ausschweifungen, und verführen und sich verführen lassen nennt man


nicht modern<. Besser noch steht es mit den Stämmen, in denen nur Jungfrauen


heiraten und das Hoffen und Wünschen der Frau ein für allemal ein Ende hat.


Nur einen Gatten bekommen sie dort, ebenso wie nur einen Leib und ein Leben;


kein Gedanke soll weiter reichen, kein Verlangen darüber hinaus anhalten;


nicht den Ehemann, sondern gleichsam die Ehe selbst sollen sie in ihm


lieben. Die Zahl der Kinder zu beschränken oder ein Nachgeborenes zu töten,


gilt für schändlich, und mehr vermögen dort gute Sitten als anderswo gute


Gesetze.


Erziehung, Erbrecht





20. In jedem Hause wachsen die Kinder nackt und schmutzig zu diesem


Gliederbau, zu dieser von uns bestaunten Größe heran. Die Mutter nährt ein


jedes an der eigenen Brust, und man überläßt sie nicht Mägden oder Ammen.


Herr und Knecht werden unterschiedslos ohne Zärtelei aufgezogen; unter


demselben Vieh, auf demselben Erdboden verbringen sie ihre Zeit, bis das


wehrhafte Alter die Freien absondert, ihre Tüchtigkeit sich geltend macht.


Spät beginnt beim jungen Manne der Liebesgenuß, und so ist die Zeugungskraft


ungeschwächt. Auch mit den Mädchen eilt man nicht; ebenso groß ist die


Jugendfrische, ähnlich der hohe Wuchs: den Männern gleich an Alter und


Stärke, treten sie in die Ehe ein, und die Kraft der Eltern kehrt in den


Kindern wieder. Die Söhne der Schwestern sind dem Oheim ebenso teuer wie


ihrem Vater. Manche Stämme halten diese Blutsbande für heiliger noch und


enger und geben ihnen den Vorzug, wenn sie Geiseln empfangen, da man sich so


die Herzen fester und die Sippe in weiterem Umfang verpflichte. Doch zu


Erben und Rechtsnachfolgern hat jeder die eigenen Kinder, und Testamente


gibt es nicht. Sind keine Kinder vorhanden, so haben die Brüder und die


Oheime väterlicher- wie mütterlicherseits die nächsten Ansprüche auf den


Besitz. Je mehr Verwandte jemand hat, je größer die Zahl der Verschwägerten


ist, desto reichere Ehren genießt er im Alter, und Kinderlosigkeit bringt


keinerlei Vorteil.





Fehde und Gastfreundschaft


21. Die Feindschaften des Vaters oder Verwandten ebenso wie die


Freundschaften zu übernehmen, ist zwingende Pflicht. Doch bestehen die


Fehden nicht unversöhnlich fort; denn selbst ein Totschlag kann mit einer


bestimmten Anzahl Groß- und Kleinvieh gesühnt werden, und die ganze Sippe


empfängt die Genugtuung. Das ist nützlich für die Allgemeinheit, weil Fehden


bei der Ungebundenheit der Verhältnisse um so verderblicher sind. Der


Geselligkeit und Gastfreundschaft gibt kein anderes Volk sich


verschwenderischer hin. Irgend jemanden, wer es auch sei, vom Hause zu


weisen, gilt als Frevel; nach Vermögen bewirtet ein jeder den Gast an


reichlicher Tafel. Ist das Mahl aufgezehrt, so dient der bisherige Wirt als


Wegweiser zu neuer Bewirtung und als Begleiter; ungeladen betreten sie den


nächsten Hof. Doch das verschlägt nichts; mit gleicher Herzlichkeit nimmt


man sie auf. Beim Gastrecht unterscheidet niemand zwischen bekannt und


unbekannt. Dem Davonziehenden pflegt man zu gewähren, was er sich ausbittet,


und mit gleicher Unbefangenheit fordert man eine Gegengabe. Sie freuen sich


über Geschenke, doch rechnen sie nicht an, was sie geben, und halten sie


nicht für verpflichtend, was sie empfangen. Die tägliche Kost ist unter


Gastfreunden Gemeingut.





Häusliches Leben, Gelage


22. Gleich nach dem Schlafe, den sie häufig bis in den lichten Tag hinein


ausdehnen, waschen sie sich, öfters warm, da bei ihnen die meiste Zeit


Winter ist. Nach dem Waschen speisen sie; jeder hat einen Sitz für sich und


einen eigenen Tisch. Dann gehen sie in Waffen an ihre Geschäfte und nicht


minder oft zu Gelagen. Tag und Nacht durchzuzechen, ist für niemanden eine


Schande. Streitigkeiten sind häufig (es handelt sich ja um Betrunkene); sie


enden selten mit bloßen Schimpfreden, öfters mit Totschlag und


Blutvergießen. Doch auch über die Aussöhnung mit Feinden, den Abschluß von


Heiraten und die Wahl der Stammeshäupter, ja über Krieg und Frieden beraten


sie sich vielfach bei Gelagen, als sei der Mensch zu keiner Zeit


aufgeschlossener für unverstellte oder stärker entbrannt für erhabene


Gedanken. Dieses Volk, ohne Falsch und Trug, offenbart noch stets bei


zwanglosem An1aß die Geheimnisse des Herzens; so liegt denn aller Gesinnung


unverhüllt und offen da. Am folgenden Tage verhandeln sie nochmals, und


beide Zeiten erfüllen ihren Zweck; sie beraten, wenn sie sich nicht zu


verstellen wissen; sie beschließen, wenn sie sich nicht irren können.


Trank und Speise





23. Als Getränk dient ein Saft aus Gerste oder Weizen, der durch Gärung


eine gewisse Ähnlichkeit mit Wein erhält; die Anwohner von Rhein und Donau


kaufen auch Wein. Die Kost ist einfach: wildes Obst, frisches Wildbret oder


geronnene Milch. Ohne feine Zubereitung, ohne Gewürze vertreiben sie den


Hunger. Dem Durst gegenüber herrscht nicht dieselbe Mäßigung. Wollte man


ihnen, ihrer Trunksucht nachgehend, verschaffen, soviel sie wollen, so


könnte man sie leichter durch ihr Laster als mit Waffen besiegen.








Spiele


24. Sie kennen nur eine Art von Darbietungen, und bei jeder Festlichkeit


dieselbe: nackt stürzen sich junge Männer, denen das Vergnügen macht, im


Sprunge zwischen Schwerter und feindlich drohende Framen. Die Übung hat


Sicherheit, die Sicherheit Anmut bewirkt, doch nicht um Gewinn oder Entgelt:


der einzige Lohn des noch so verwegenen Spiels ist das Vergnügen der


Zuschauer. Das Würfelspiel betreiben sie seltsamerweise in voller


Nüchternheit, ganz wie ein ernsthaftes Geschäft; ihre Leidenschaft im


Gewinnen und Verlieren ist so hemmungslos, daß sie, wenn sie alles verspielt


haben, mit dem äußersten und letzten Wurf um die Freiheit und ihren eigenen


Leib kämpfen. Der Verlierer begibt sich willig in die Knechtschaft: mag er


auch jünger, mag er kräftiger sein, er läßt sich binden und verkaufen. So


groß ist ihr Starrsinn an verkehrter Stelle; sie selbst reden von Treue.


Sklaven, die sie auf diese Art gewonnen haben, veräußern sie weiter, um auch


sich selbst von der Peinlichkeit des Sieges zu befreien.





Die Unfreien


25. Sonst verwenden sie die Sklaven nicht wie wir, daß die Aufgaben unter


das Gesinde verteilt wären: jeder schaltet auf eigenem Hofe, am eigenen


Herd. Der Herr trägt ihm wie einem Pächter auf, eine bestimmte Menge Korn


oder Vieh oder Tuch abzugeben, und nur so weit reicht die Gehorsamspflicht


des Sklaven. Die übrigen Geschäfte des Hauses besorgen die Frau und die


Kinder. Daß man einen Sklaven prügelt, fesselt und mit Zwangsarbeit


bestraft, ist selten; oft schlägt man ihn tot, nicht um strenge Zucht zu


wahren, sondern in der Hitze des Zorns, wie einen Widersacher - allerdings


ist die Sklaventötung straffrei. Die Freigelassenen stehen nur wenig über


den Sklaven; selten bedeuten sie etwas im Hause, nie im Gemeinwesen, mit


Ausnahme der Stämme, denen Könige gebieten. Denn dort steigen sie über


Freigeborene und selbst über Adlige hinaus; bei den übrigen Stämmen ist der


niedere Rang der Freigelassenen ein Beweis für die allgemeine Freiheit.





Feldwirtschaft


26. Geldgeschäfte zu betreiben und auch mit den Zinsen zu wuchern, ist


unbekannt, und deshalb ist man besser dagegen gefeit, als wenn es verboten


wäre. Ackerland nehmen sie in einem Ausmaß, das der Anzahl der Bebauer


entspricht, mit gesamter Hand füreinander in Besitz; dann teilen sie es nach


ihrem Range unter sich auf. Die Weiträumigkeit der Feldmark erleichtert das


Teilungsgeschäft. Sie bestellen Jahr für Jahr andere Felder, und doch bleibt


Ackerland übrig. Denn ihr Arbeitsaufwand wetteifert nicht mit der


Fruchtbarkeit und Ausdehnung des Bodens: sie legen keine Obstpflanzungen an


noch umzäunen sie Wiesen oder bewässern sie Gärten; einzig Getreide soll der


Boden hervorbringen. Deshalb teilen sie auch das Jahr nicht in ebenso viele


Abschnitte ein. Für Winter, Frühling und Sommer haben sie Begriff und


Bezeichnung; der Herbst ist ihnen unbekannt, der Name ebenso wie die Gaben.





Totenbestattung


27. Bei Totenfeiern meiden sie Prunk; nur darauf achten sie, daß die


Leichen berühmter Männer mit bestimmten Holzarten verbrannt werden. Den


Scheiterhaufen beladen sie nicht mit Teppichen oder Räucherwerk. Jeden


begleiten die Waffen; einigen wird auch das Pferd ins Feuer mitgegeben. Über


dem Grabe erhebt sich ein Rasenhügel; die Ehre hoher und kunstvoller


Denkmäler lehnt man ab: sie sei eine Last für die Toten. Jammer und Tränen


währen nur kurz, doch Schmerz und Trauer lange. Den Frauen ziemt Klage, den


Männern stilles Gedenken.


Grenzvölker im Westen und Süden


Dies haben wir im allgemeinen über den Ursprung und die Sitten sämtlicher


Germanen erfahren. Jetzt will ich die Einrichtungen und Bräuche einzelner


Stämme, soweit sie anders sind, schildern und will berichten, welche


Völkerschaften aus Germanien nach Gallien gewandert sind. 28. Da8 die


Gallier einst überlegen waren, bezeugt ein Gewährsmann ersten Ranges, der


göttliche Julius Cäsar. Man darf daher annehmen, da8 auch Gallier nach


Germanien hinübergezogen sind. Denn wie wenig hinderte der Strom, daß ein


Stamm, der gerade erstarkt war, neue Wohnsitze einnahm, wenn sie noch


allgemein zugänglich und nicht unter königliche Gewalthaber aufgeteilt


waren! So hausten zwischen dem herkynischen Walde, dem Rhein und dem Main


die Helvetier und weiter ostwärts die Bojer, beides gallische Stämme. Der


Name Boihämum ist bis heute geblieben und gibt Kunde von der Vorzeit des


Landes, wenn auch die Bewohner gewechselt haben. Ob jedoch die Aravisker aus


dem Gebiet der Oser, eines germanischen Stammes, nach Pannonien oder die


Oser von den Araviskern aus nach Germanien gewandert sind - beide


Völkerschaften haben noch heute dieselbe Sprache, dieselben Einrichtungen


und Gebräuche -, steht nicht fest; denn ehedem bot das Land nördlich wie


südlich der Donau bei gleicher Armut und Unabhängigkeit dieselben Vorzüge


und Nachteile. Die Treverer und Nervier rühmen sich allzusehr ihres


Anspruchs auf germanische Herkunft, als schlösse schon ein solcher Adel des


Blutes die Verwechslung mit gallischer Schlaffheit aus. Am Rheinufer selbst


wohnen unzweifelhaft Germanenstämme: die Vangionen, Triboker und Nemeter.


Auch die Ubier schämen sich ihres Ursprungs nicht, obwohl ihnen ihre


Verdienste die Stellung einer römischen Kolonie eingebracht haben und sie


sich lieber nach der Gründerin ihrer Stadt a1s Agrippinenser bezeichnen. Sie


haben vor Zeiten den Rhein überschritten und wurden, da ihre Treue sich


bewährte, unmittelbar am Ufer angesiedelt, als Wächter, nicht als Bewachte.





29. Von allen diesen Stämmen sind die Bataver am tapfersten. Sie bewohnen


einen Streifen am linken Ufer und in der Hauptsache die Rheininsel.


Ursprünglich ein Zweig der Chatten, zogen sie wegen inneren Zwistes in die


jetzigen Wohnsitze, wo sie dem römischen Reiche einverleibt werden sollten.


Die Ehre und Auszeichnung alter Bundesgenossenschaft hat bis heute Bestand;


denn kein Zins demütigt sie, und kein Steuerpächter preßt sie aus. Frei von


Lasten und Abgaben und einzig Kampfzwecken vorbehalten, werden sie wie Wehr


und Waffen für Kriege aufgespart. In gleicher Abhängigkeit steht der Stamm


der Mattiaker. Denn die Hoheit des römischen Volkes hat sich auch jenseits


des Rheines und jenseits der alten Reichsgrenzen Achtung verschafft. So


haben sie Gebiet und Wohnsitz auf germanischer Seite, doch Herz und


Gesinnung bei uns. Im übrigen gleichen sie den Batavern, nur daß


Bodenbeschaffenheit und Klima ihres Landes sie mit noch größerer


Lebhaftigkeit begabt haben. Nicht zu den Völkerschaften Germaniens möchte


ich die Leute rechnen, die das Zehntland bebauen, wenn sie sich auch


jenseits von Rhein und Donau angesiedelt haben; gallisches Gesindel und aus


Not Verwegene eigneten sich den umstrittenen Boden an. Bald darauf wurden


der Grenzwall angelegt und die Wachen vorgeschoben; seither gilt das Gebiet


als Vorland des Reiches und Teil der Provinz.





Die Chatten


30. Weiter nördlich beginnt mit dem herkynischen Walde das Land der


Chatten; sie wohnen nicht in so flachen und sumpfigen Gebieten wie die


übrigen Stämme, die das weite Germanien aufnimmt. Denn die Hügel dauern an


und werden erst allmählich seltener, und so begleitet der herkynische Wald


seine Chatten und endet mit ihnen. Bei diesem Volk sind kräftiger die


Gestalten, sehnig die Glieder, durchdringend der Blick und größer die


geistige Regsamkeit. Für Germanen zeigen sie viel Umsicht und Geschick: sie


stellen Männer ihrer Wahl an die Spitze, gehorchen den Vorgesetzten, kennen


Reih und Glied, nehmen günstige Umstände wahr, verschieben einmal einen


Angriff, teilen sich ein für den Tag, verschanzen sich für die Nacht; das


Glück halten sie für unbeständig und nur die eigene Tapferkeit für


beständig. Und was überaus selten und sonst allein römischer Kriegszucht


möglich ist: sie geben mehr auf die Führung als auf das Heer. Ihre Stärke


liegt ganz beim Fußvolk, dem sie nicht nur Waffen, sondern auch Schanzzeug


und Verpflegung aufbürden: andere sieht man in die Schlacht ziehen, die


Chatten in den Krieg. Selten kommt es zu Streifzügen und nicht geplantem


Kampf. Es ist ja auch die Art berittener Streitkräfte, rasch den Sieg zu


erringen und rasch wieder zu entweichen; doch Schnelligkeit grenzt an


Furcht, Zögern kommt standhaftem Mute näher.





31. Ein Brauch, der auch bei anderen germanischen Stämmen vorkommt, jedoch


selten und als Beweis vereinzelten Wagemuts, ist bei den Chatten allgemein


üblich geworden: mit dem Eintritt in das Mannesalter lassen sie Haupthaar


und Bart wachsen, und erst, wenn sie einen Feind erschlagen haben,


beseitigen sie diesen der Tapferkeit geweihten und verpfändeten Zustand


ihres Gesichtes. Über dem Blut und der Waffenbeute enthüllen sie ihre Stirn


und glauben, erst jetzt die Schuld ihres Daseins entrichtet zu haben und des


Vaterlandes sowie ihrer Eltern würdig zu sein. Die Feigen und Kriegsscheuen


behalten ihren Wust. Die Tapfersten tragen überdies einen eisernen Ring -


sonst eine Schande bei diesem Stamme - wie eine Fessel, bis sie sich durch


Tötung eines Feindes davon befreien. Vielen Chatten gefällt dieses Aussehen,


und sie werden grau mit ihren Kennzeichen, von Freund und Feind


gleichermaßen beachtet. Sie eröffnen jeden Kampf; sie sind stets das


vorderste Glied, ein befremdender Anblick; denn auch im Frieden nimmt ihr


Gesicht kein milderes Aussehen an. Keiner von ihnen hat Haus oder Hof oder


sonstige Pflichten; wen immer sie aufsuchen, von dem lassen sie sich je nach


den Verhältnissen bewirten; sie sind Verschwender fremden und Verächter


eigenen Gutes, bis das kraftlose Alter sie zu so rauhem Kriegerdasein


unfähig macht.





Weitere Stämme im Westen


32. Den Chatten zunächst, wo der Rhein noch ein festes Bett hat und als


Grenzscheide genügt, wohnen die Usiper und Tenkterer. Die Tenkterer


überragen den üblichen Kriegsruhm durch ihre vorzüglich geschulte Reiterei,


und ebenso großes Ansehen wie das Fußvolk der Chatten genießt die


Reitertruppe der Tenkterer. So führten es die Vorfahren ein und halten es


auch die Nachkommen; hierin besteht das Spiel der Kinder, hierin der


Wetteifer der Jugend und die ständige Übung der Alten. Wie das Gesinde, der


Wohnsitz und alle Rechte der Nachfolge vererben sich auch die Pferde; ein


Sohn empfängt sie, doch nicht, wie alles andere, der erstgeborene, sondern


jeweils der streitbarste und tapferste.





33. In der Nähe der Tenkterer stieß man einst auf die Brukterer; jetzt


sind, wie es heißt, die Chamaver und Angrivarier dorthin gezogen. Denn die


verbündeten Nachbarstämme hatten die Brukterer geschlagen und gänzlich


ausgerottet, aus Erbitterung über ihren Hochmut oder aus Beutelust oder weil


die Götter uns eine Gunst erzeigten; denn sie gewährten uns sogar das


Schauspiel der Schlacht.


Über Sechzigtausend sind dort gefallen, nicht durch römische Wehr und


Waffen, sondern, was noch erhebender ist, ganz zu unserer Augenweide. Es


bleibe, so flehe ich, und bestehe fort bei diesen Völkern, wenn nicht Liebe


zu uns, so doch gegenseitiger Haß; denn bei dem lastenden Verhängnis des


Reiches kann das Geschick nichts Besseres mehr darbieten als die Zwietracht


der Feinde.





34. An die Angrivarier und Chamaver schließen sich südostwärts die


Dulgubnier und Chasuarier an sowie andere, weniger bekannte Stämme; im


Norden folgen die Friesen. Nach der Volkszahl unterscheidet man Groß- und


Kleinfriesen. Beide Stämme werden bis zum Weltmeer hin vom Rheine eingesäumt


und umgeben zudem unermeßliche Seen, auf denen schon römische Flotten


gefahren sind. Ja, selbst auf das Weltmeer haben wir uns dort hinaus gewagt,


und wie die Kunde verbreitet, gibt es da noch Säulen des Herkules, mag der


Held wirklich dorthin gelangt sein oder mögen wir uns angewöhnt haben, alles


Großartige in der Welt mit seinem berühmten Namen zu verbinden. Auch hat es


dem Drusus Germanicus an Wagemut nicht gefehlt, doch hat die See verhindert,


daß man sich über sie und zugleich über Herkules Gewißheit verschaffte.


Hernach hat sich niemand mehr getraut, und es galt für frömmer und


ehrfürchtiger, an die Taten der Götter zu glauben als von ihnen zu wissen.





Die nördlichen Stämme


35. Bis jetzt haben wir Germanien nach Westen hin kennengelernt; nach


Norden springt es in riesiger Ausbuchtung zurück. Und sogleich an erster


Stelle zieht sich der Stamm der Chauken, der bei den Friesen beginnt und


einen Teil der Küste besitzt, an der Seite sämtlicher von mir erwähnter


Stimme hin und reicht mit einem Zipfel bis ins Land der Chatten. Dieses


unermeßliche Gebiet nennen die Chauken nicht nur ihr eigen, sie füllen es


vielmehr auch aus, ein unter den Germanen sehr angesehener Stamm, der es


vorzieht, seine Größe durch Rechtlichkeit zu behaupten. Frei von Habgier,


frei von Herrschsucht, leben sie still und für sich; sie reizen nicht zum


Kriege, sie gehen nicht auf Raub oder Plünderung aus. Das ist der


vorzüglichste Beweis ihres Mutes und ihrer Macht, daß sie ihre Überlegenheit


nicht auf Gewalttaten gründen. Doch haben alle die Waffen zur Hand, und


sooft die Not es erfordert, steht ein Heer bereit, zahlreich an Männern und


Pferden. Auch wenn sie Frieden habcn, ist ihr Ruf der gleiche.





36. Als Nachbarn der Chauken und Chatten gaben sich die Cheruskcr


unbehelligt einem allzu langen und erschlaffenden Frieden hin. Der brachte


ihn mehr Behagen als Sicherheit; denn es ist verfehlt, unter


Herrschsüchtigen und Starken der Ruhe zu pflegen. Wo das Faustrecht gilt,


sind Mäßigung und Rechtschaffenheit Namen, die nur dem Überlegenen zukommen.


So werden die Cherusker, die einst die guten und gerechten hießen, jetzt


Tölpel und Toren genannt; den siegreichen Chatzen rechnet man das Glück als


Klugheit an. Der Sturz der Cherusker riß auch die Foser mit sich, einen


benachbarten Stamm; im Mißgeschick sind sie Bündner gleichen Rechts, während


sie im Glück zurückstehen mußten.





37. In derselben Ausbuchtung, unmittelbar am Meere, wohnen die Kimbern,


jetzt eine kleine Völkerschaft, doch gewaltig an Ruhm. Von der einstigen


Geltung sind weithin Spuren erhalten, ausgedehnte Lagerplätze jenseits und


diesseits des Kheines, an deren Umfang man jetzt noch die ungeheure


Arbeitskraft dieses Stammes und die Glaubwürdigkeit des großen Wanderzuges


ermessen kann. Sechshundertvierzig Jahre zählte unsere Stadt, als man unter


dem Konsulat des Caecilius Metellus und Papirius Carbo zum ersten Male von


den Waffentaten der Kimbern vernahm. Rechnen wir von da ab bis zum zweiten


Konsulat des Kaisers Trajan, dann ergeben sich ungefähr zweihundertzehn


Jahre: so lange schon wird Germanien besiegt! Im Verlauf dieser langen Zeit


erlitten beide Seiten schwere Verluste.


Nicht der Samnite, nicht die Punier, nicht die spanischen oder die


gallischen Lande, ja nicht einmal die Parther machten öfter von sich reden:


stärker noch als die Königsmacht des Arsakes ist das Freiheitsstreben der


Germanen. Denn was kann uns der Osten weiter vorhalten als den Untergang des


Crassus? Dafür büßte er seinerseits den Pacorus ein und mußte sich einem


Ventidius beugen. Anders die Germanen: sie haben Carbo und Cassius und


Scaurus Aurelius und Servilius Caepio und Maximus Ma11ius geschlagen oder


gefangengenommen und so zugleich dem römischen Volke fünf konsularische


Heere entrissen, ja sogar dem Kaiser Augustus den Varus und mit ihm drei


Legionen, und nicht ohne eigene Verluste rang sie C. Marius in Italien, der


göttliche Cäsar in Gallien, Drusus und Nero und Germanicus in ihrem eigenen


Lande nieder; bald danach nahmen die ungeheuren Drohungen des Kaisers Gaius


ein lächerliches Ende. Seitdem war. Ruhe, bis die Germanen, unsere


Zwietracht und den Bürgerkrieg ausnutzend, die Winterlager der Legionen


erstürmten und selbst Gallien zu gewinnen suchten. Und nachdem sie von dort


wieder vertrieben waren, hat man in jüngster Zeit Siege über sie mehr


gefeiert a1s wirklich errungen.





Die suebischen Stämme


38. Jetzt habe ich von den Sueben zu berichten. Sie sind nicht, wie die


Chatten oder Tenkterer, ein einheitlicher Stamm; sie bewohnen nämlich den


größeren Teil Germaniens und gliedern sich wieder in besondere Stämme mit


eigenen Namen, wenn sie auch insgesamt als Sueben bezeichnet werden. Ein


Kennzeichen des Stammes ist es, das Haar seitwärts zu streichen und in einem


Knoten hochzubinden. So unterscheiden sich die Sueben von den übrigen


Germanen, so bei ihnen selbst die Freien von den Sklaven. Auch andere Stämme


kennen den Brauch, sei es durch Verwandtschaft mit den Sueben oder, wie es


häufig geschieht, durch Nachahmung; doch befolgt man ihn selten und nur in


der Jugendzeit. Bei den Sueben hingegen kämmen sie bis ins hohe Alter das


widerstrebende Haar nach hinten und knüpfen es oft genau auf dem Scheitel


zusammen; die Vornehmen tragen es noch kunstvoller. Das ist


Schönheitspflege, aber von harmloser Art; denn nicht um zu lieben oder


geliebt zu werden, richten sie sich her, sondern um recht groß und furchtbar


zu erscheinen, wenn sie in den Krieg ziehen: für das Auge des Feindes ist


der Putz bestimmt.





39. Als die ältesten und vornehmsten Sueben betrachten sich die Semnonen.


Den Glauben an ihr hohes Alter bestätigt ein religiöser Brauch. Zu


bestimmter Zeit treffen sich sämtliche Stämme desselben Geblüts, durch


Abgesandte vertreten, in einem Haine, der durch die von den Vätern


geschauten Vorzeichen und durch uralte Scheu geheiligt ist. Dort leiten sie


mit öffentlichem Menschenopfer die schauderhafte Feier ihres rohen Brauches


ein. Dem Hain wird auch sonst Verehrung bezeigt: niemand betritt ihn, er sei


denn gefesselt, um seine Unterwürfigkeit und die Macht der Gottheit zu


bekunden. Fällt jemand hin, so darf er sich nicht aufheben lassen oder


selbst aufstehen; auf dem Erdboden wälzt er sich hinaus. Insgesamt gründet


sich der Kultbrauch auf den Glauben, daß von dort der Stamm sich herleite,


dort die allbeherrschende Gottheit wohne, der alles andere unterworfen,


gehorsam sei. Der Wohlstand der Semnonen erhöht ihr Ansehen: sie bewohnen


hundert Gaue, und die Größe ihrer Gemeinschaft veranla6t sie, sich für den


Hauptstamm der Sueben zu halten.





40. Dagegen macht die Langobarden die geringe Zahl berühmt: inmitten


zahlreicher, sehr starker Stämme sind sie nicht durch Gefügigkeit, sondern


durch Kampf und Wagemut geschützt. Dann folgen die Reudigner, Avionen,


Anglier, Variner, Eudosen, Suardonen und Nuitonen; ihnen allen gewähren


Flüsse oder Wälder Sicherheit. Im einzelnen haben sie nichts


Bemerkenswertes, insgesamt aber verehren sie Nerthus, das heißt die Mutter


Erde, und glauben, die Göttin nehme teil am Treiben der Menschen, sie fahre


bei den Stämmen umher. Es gibt auf einer Insel des Weltmeeres einen heiligen


Hain, und dort steht ein geweihter Wagen, mit Tüchern bedeckt; einzig der


Priester darf ihn berühren. Er bemerkt das Eintreffen der Göttin im


Allerheiligsten; er geleitet sie in tiefer Ehrfurcht, wenn sie auf ihrem mit


Kühen bespannten Wagen dahinfährt. Dann folgen frohe Tage; festlich


geschmückt sind alle Orte, denen die Göttin die Huld ihrer Ankunft und Rast


gewährt. Man zieht nicht in den Krieg, man greift nicht zu den Waffen;


verschlossen ist alles Eisen. Dann kennt, dann liebt man nur Ruhe und


Frieden, bis die Göttin, des Umgangs mit Menschen müde, vom gleichen


Priester ihrem Heiligtum zurückgegeben wird. Dann werden Wagen und Tücher


und, wenn man es glauben will, die Gottheit selbst in einem entlegenen See


gewaschen. Sklaven sind hierbei behilflich, und alsbald verschlingt sie


derselbe See. So herrscht denn ein geheimes Grauen und heiliges Dunkel, was


das für ein Wesen sei, das nur Todgeweihte schauen dürfen.





41. Dieser Teil von Suebien reicht bis in die entlegeneren Gebiete


Germaniens. Näher - um wie vorhin dem Rhein, so jetzt der Donau zu fo1gen -


wohnt der Stamm der Hermunduren, den Kömern treu ergeben. Daher sind sie die


einzigen Germanen, die nicht nur am Donauufer, sondern auch im Inneren des


Landes und in der prächtigen Kolonie der Provinz Rätien Handel treiben


dürfen. Sie kommen allerorten und ohne Beaufsichtigung über die Grenze. Und


während wir den übrigen Stämmen nur unsere Waffen und Feldlager zeigen,


haben wir den Hermunduren unsere Häuser und Gutshöfe geöffnet; sie sind ja


frei von Begehrlichkeit. In ihrem Gebiet entspringt die Elbe, einst ein


berühmter und wohlbekannter Fluß; jetzt weiß man von ihm nur durch


Hörensagen.





42. Neben den Hermunduren wohnen die Narister und weiterhin die Markomannen


und Quaden. Die Markomannen zeichnen sich durch Ruhm und Stärke aus, und


sogar ihre jetzigen Wohnsitze, aus denen sie einst die Bojer vertrieben,


sind ein Lohn der Tapferkeit. Auch die Narister und Quaden schlagen nicht


aus der Art. Diese Gegend ist sozusagen die Stirnseite Germaniens, soweit


sie von der Donau gebildet wird. Die Markomannen und Quaden hatten bis auf


unsere Zeit Könige aus dem eigenen Stamme, aus dem edlen Geschlecht des


Marbod und Tuder; jetzt lassen sie sich auch fremde gefallen. Doch ihre


Stellung und Macht verdanken die Könige römischem Einfluß. Wir unterstützen


sie selten mit Truppen, öfters mit Geld, und sie stehen sich dabei nicht


schlechter.





43. An die Markomannen und Quaden schließen sich weiter rückwärts die


Marsigner, Kotiner, Oser und Burer an. Von ihnen geben sich die Marsigner


und Burer durch Sprache und Lebensweise als Sueben zu erkennen. Bei den


Kotinern beweist die gallische, bei den Osern die pannonische Mundart, da8


sie keine Germanen sind, und überdies ertragen sie Abgaben: sie müssen sie


als landfremde Stämme teils an die Sarmaten, teils an die Quaden entrichten.


Die Kotiner fördern sogar Eisen, was sie noch verächtlicher macht. Alle


diese Stämme haben nur wenig ebenes Gebiet; meist wohnen sie auf bewaldeten


Höhen. Denn der Kamm einer fortlaufenden Gebirgskette teilt und


durchschneidet das Suebenland. Jenseits des Kammes hausen noch zahlreiche


Völkerschaften. Von ihnen haben sich die Lugier am weitesten ausgebreitet;


sie gliedern sich in mehrere Einzelstämme. Es genügt, die bedeutendsten zu


nennen: die Harier, Helvekonen, Manimer, Helisier und Naharnavaler. Bei den


Naharnavalern zeigt man einen Hain, eine uralte Kultstätte. Vorsteher ist


ein Priester in Frauentracht; die Gottheiten, so wird berichtet, könnte man


nach römischer Auffassung Kastor und Pollux nennen. Ihnen entsprechen sie in


ihrem Wesen; sie heißen Alken. Es gibt keine Bildnisse; keine Spur weist auf


einen fremden Ursprung des Kultes; gleichwohl verehrt man sie als Brüder,


als Jünglinge. Im übrigen sind die Harier den soeben genannten Summen an


Kräften überlegen. Ohnehin von schrecklichem Aussehen, kommen sie der


angeborenen Wildheit durch Kunst und Ausnutzung der Zeit zu Hilfe. Schwarz


sind die Schilde, gefärbt die Leiber; dunkle Nächte wählen sie zum Kampf,


und schon das Grauenvolle und Schattenhafte ihres Totenheeres jagt Schrecken


ein: kein Feind hält dem ungewohnten und gleichsam höllischen Anblick stand.


Denn in jeder Schlacht erliegen ja zuerst die Augen.





44. Nördlich der Lugier leben die Gotonen. Sie werdcn von Königen


beherrscht, schon etwas straffer als die übrigen Germanenstämme, doch nicht


bis zum Verlust der Freiheit. Unmittelbar darauf folgen die Rugier und


Iemovier; sie wohnen an der Meeresküste. Kennzeichnend für alle diese Stämme


sind runde Schilde, kurze Schwerter und Gehorsam gegenüber Königen. Dann


kommen, schon im Meere, die Stämme der Suionen; sie haben außer Männern und


Waffen auch starke Flotten. Die Gestalt ihrer Schiffe zeichnet sich dadurch


aus, daß beide Enden einen Bug haben und stets eine Stirnseite zum Landen


bereit ist. Auch benutzen sie keine Segel, noch machen sie die Ruder in


Reihen an den Schiffswänden fest; lose, wie manchmal auf Flüssen, und je


nach Bedarf hier oder dort verwendbar ist das Ruderwerk, Bei den Suionen


steht auch Reichtum in Ehren, und deshalb herrscht einer, schon ohne jede


Beschränkung, mit unwiderruflichem Anrecht auf Gehorsam. Auch sind dort die


Waffen nicht, wie bei den übrigen Ciermanen, in freiem Gebrauch, sondern


eingeschlossen, und zwar unter Aufsicht eines Sklaven. Denn plötzliche


Überfälle von Feinden verhindert das Meer; au6erdem neigen bewaffnete


Scharen im Frieden leicht zu Ausschreitungen. Und wahrhaftig, daß kein


Adliger oder Freigeborener, nicht einmal ein Freigelassener, die Waffen


unter sich habe, ist ein Gebot der königlichen Sicherheit.





45. Nördlich der Suionen liegt abermals ein Meer, träge und nahezu


unbewegt. Daß es den Erdkreis ringsum begrenze und einschließe, ist deshalb


glaubwürdig, weil der letzte Schein der schon sinkenden Sonne bis zum


Wiederaufgang anhält, und zwar so hell, daß er die Sterne überstrahlt. Die


Einbildung fügt noch hinzu, man vernehme das Tönen der emportauchenden Sonne


und erblicke die Umrisse der Pferde und das strahlenumkränzte Haupt. Dort


liegt - und die Kunde ist wahr - das Ende der Welt. Doch weiter: an seiner


Ostküste bespült das suebische Meer die Stämme der Ästier. In Brauchtum und


äußerer Erscheinung stehen sie den Sueben nahe, in der Sprache eher den


Britanniern. Sie verehren die Mutter der Götter. Als Wahrzeichen ihres


Kultes tragen sie Bilder von Ebern: die dienen als Waffe und Schutzwehr


gegen jede Gefahr und gewähren dem Verehrer der Göttin selbst unter Feinden


Sicherheit. Selten werden Waffen aus Eisen verwendet, häufiger Knüttel.


Getreide und andere Feldfrüchte ziehen die Ästier mit größerer Geduld, als


die übliche Trägheit der Germanen erwarten läßt. Doch auch das Meer


durchsuchen sie, und als einzige unter allen Germanen sammeln sie an


seichten Stellen und schon am Strande den Bernstein, der bei ihnen Glesum<


heißt. Was er ist oder wie er entsteht, haben sie nach Barbarenart nicht


untersucht oder in Erfahrung gebracht; ja er lag sogar lange Zeit unbeachtet


unter den übrigen Auswürfen des Meeres, bis ihm unsere Putzsucht Wert


verlieh. Sie selbst verwenden ihn gar nicht; roh wird er gesammelt,


unbearbeitet überbracht, und staunend nehmen sie den Preis entgegen. Daß es


sich jedoch um den Saft von Bäumen handelt, ist unverkennbar: oft schimmern


allerlei kriechende und auch geflügelte Tierchen durch, die sich in der


Flüssigkeit verfingen und dann von der erstarrenden Masse eingeschlossen


wurden. Wie in entlegenen Gebieten des Ostens, wo die Bäume Weihrauch und


Balsam ausschwitzen, so gibt es, möchte ich annehmen, auch auf Inseln und in


Ländern des Westens besonders ertragreiche Gehölze und Haine. Deren Säfte


quillen unter den Strahlen der nahen Sonne hervor, rinnen flüssig in das


angrenzende Meer und werden dann von der Gewalt der Stürme an die


gegenüberliegenden Küsten geschwemmt. Bringt man Bernstein ans Feuer, um


seine Eigenschaften zu prüfen, so brennt er wie ein Kienspan und gibt eine


ölige und stark riechende Flamme; hernach wird er zäh wie Pech oder Harz.


Den Suionen schlie6en sich die Stämme der Sithonen an. Im allgemeinen den


Suionen ähnlich, unterscheiden sie sich dadurch, daß eine Frau die


Herrschaft hat: so tief sind sie nicht nur unter die Freiheit, sondern


selbst unter die Knechtschaft hinabgesunken.





Grenzvölker im Osten


46. Hier ist Suebien zu Ende. Ob ich die Stämme der Peukiner, Venether und


Fennen den Germanen zurechnen soll oder den Sarmaten, weiß ich nicht recht,


obwohl die Peukiner, die manche auch Bastarner nennen, in Sprache und


Lebensweise, Siedlungsart und Hausbau den Germanen gleichen. Der ganze Stamm


ist schmutzig, und die Vornehmen leben untätig dahin. Durch Mischehen mit


den Sarmaten haben sie manches von deren Häßlichkeit angenommen. Die


Venether machten sich auch in reichem Maße sarmatische Sitten zu eigen; denn


was sich an Wäldern und Bergen zwischen den Peukinern und Fennen hinzieht,


durchstreifen sie auf ihren Raubzügen. Gleichwohl wird man sie eher zu den


Germanen rechnen, weil sie feste Häuser bauen, Schilde führen und gern und


behende zu Fuß gehen, ganz im Gegensatz zu den Sarmaten, die auf Pferd und


Wagen zu Hause sind. Die Fennen leben ungemein roh, in abstoßender


Dürftigkeit. Sie kennen keine Waffen, keine Pferde, kein Heim; Kräuter


dienen zur Nahrung, Felle zur Kleidung und der Erdboden als Lagerstätte.


Ihre einzige Hoffnung sind Pfeile, die sie aus Mangel an Eisen mit


Knochenspitzen versehen. Und von derselben Jagd nähren sich die Frauen


ebenso wie die Männer; denn überall sind sie dabei und fordern ihren Anteil


an der Beute. Auch gibt es für die Kinder keinen anderen Schutz vor wilden


Tieren und Regengüssen, als daß man sie in einem G