Als Beispiel: Die phönizische Schrift war vom 11. bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. in Gebrauch. Die ersten Runenfunde haben wir aus dem 2. Jahrhundert. Das ergibt eine Fundleere von etwa 700 Jahren, das ist gewaltig. Die norditalischen Alphabete (zur Zeit der Übernahme) fallen ins 3.-2. Jahrhundert v. Chr. - eine Fundleere von 300 Jahren, was bedeutend weniger und auch nicht ganz so ungewöhnlich wäre.
Kontakte zu den Phöniziern können nicht belegt werden. Eventuelle Kontakte werden maximal aus anderen Quellen vermutet (Heredot). Auf der anderen Seite sind sehr enge Kontakte zwischen Germanen und Norditalern sowohl in alten Schriften als auch archäologisch belegt - auch für die Zeit, in der eine evtl. Übernahme der Schrift hätte stattfinden müssen.
Anders als in dem Artikel behauptet, stammen sehr viele Runenfunde (wenn auch nicht die ältesten, was am Mangel von Mooren liegen kann, die Funde gut erhalten) auch aus Deutschland, und zwar Süddeutschland. Laut dem Runenprojekt der Uni Kiel 118, wogegen man in Dänemark 138 fand - unwesentlich mehr. Ein wirkliches Indiz ist Norden oder Süden also nicht für das Herausfinden, wo die Runen "erfunden" wurden.
Weiters schreibt Vennemann:
Diese Schlussfolgerung funktioniert nur, sofern man die Runen als Gebrauchsschrift katalogisiert. Dafür gibt es aber keinerlei Hinweise, nicht eine einzige Inschrift deutet auf kommunikativen Zweck hin. Versteht man die Runen dagegen als Kultschrift, erklären sich der Großteil der Inschriften, die akrophonen Namen der Runen, die Form der Runen (manche sind identisch mit Kultzeichnungen früherer Felszeichnungen im germanischen Raum) sowie Aufbau der Runenreihe an sich.„Wenn ein Germane von den Lateinern zum Schreiben angeregt worden wäre, dann hätte er das lateinische Schreibsystem gelernt, wie andere Völker einschließlich der späteren germanischen Völker auch.“ Die äußerst aufwendige Leistung, ein eigenes Alphabet abzuleiten, stünde dazu in keinem Verhältnis. Es müsse also andere Anreize gegeben haben, mittels Runenschrift zu kommunizieren.
In Bezug auf die Reihenfolge der Runen stützt sich Vennemann einzig auf zwei phönizische Buchstaben, Aleph und He. Vergleicht man die norditalischen Schriften mit der Runenreihe ergeben sich Ähnlichkeiten größeren Ausmaßes: Man braucht einzig die Runen z gegen r, b gegen u, a gegen f und die Gruppen mlndo mit prstu zu vertauschen und die gesamte Reihe stimmt überein. Von den 24 Runen lassen sich 18 ohne Weiteres aus den italischen Buchstaben herleiten. Die weiteren 6 betreffen Laute, die im Italischen und Germanischen nicht übereinstimmen.
Einem Buchstaben den Namen eines anlautenden Wortes zu geben, liegt bei einer Kultschrift gar nicht so fern, bei der einige der Zeichen bereits als Symbole verwendet wurden und Namen besaßen.
Von norditalischen Schriften wurden außerdem Schriftrichtung(en), Trennungszeichen, Mangel der Doppelkonsonanten (auch über Wortgrenzen) sowie Einfassungslinien übernommen.
Wo Vennemann dagegen das Weglassen der Nasale (m und n) vor Konsonanten anspricht, muss angemerkt werden, dass dieser Brauch kein rein runischer Brauch, sondern auch später sehr häufig (nahezu standardisiert als Kürzungsstriche) in mittelalterlichen Handschriften anzutreffen ist.